5B01D819-20DA-4AC4-8233-0F74B930AF29Andermatt, 27.06.2021

Strahlend blauer Himmel und das Zwitschern der Vögel begrüßen mich.

Von der Dame im Nachbarzimmer habe ich nur mitbekommen, wenn sie telefoniert oder ferngesehen hat - also eigentlich alles. Daher habe ich selbst Netflix angeworfen und bin dann bei meinem Film eingeschlafen. Auch sonst habe ich mich wie zu Hause gefühlt. Zwei Mal wollte ich auf Toilette und da war schon besetzt. Übrigens so ein High-Tech-Teil mit ganz vielen Knöpfen und Hebelchen für die Unterbodenwäsche. Hätte ich ja auch ausprobiert, aber ohne Bedienungsanleitung war mir das zu heikel.

Das Frühstück findet im Wohn-Esszimmer statt. Für den verstorbenen Mann ist ein richtiger Schrein mit Karten, Kirchen-Kerzen und Rosen eingerichtet. Ich habe das Gefühl in das Leben eines anderen Menschen einzudringen (oder hineingezogen zu werden) und kann mich hier nicht wohlfühlen. Als ich nach dem Frühstück im Bad noch die Hände wasche, ist „mein“ Handtuch schon weg - und in meinem Schlafzimmer das Bett schon abgezogen. Oh Mann! Zum Glück hatte ich vorher schon ausreichend geräumt, so dass ich jetzt in wenigen Minuten abmarschbereit bin. B&B ist ein so dehnbarer Begriff - offenbar mit verschiedenen Privatsphäre-Leveln - vom professionellen Hotel garni bis zum Familienmitglied. Und heute Abend bin ich ja wieder in einem B&B.

Ich wandere um halb neun Uhr los - zum geographischen Höhepunkt meiner Reise. Laut Schild soll ich den Pass in vier Stunden erreichen, also zur Mittagszeit. Am Himmel zeigen sich ein paar Quellwolken, aber ich hoffe, dass das Wetter hält.

Ich durchquere also Andermatt und wandere flach, neben wunderbar blühenden Alpenwiesen der Reuss entlang nach Hospental. Hier wende ich mich nach links, denn sonst komme ich nachher noch im Wallis raus. Dort ist es zwar wunderschön, aber meine Planung ist eine andere.

Ich nehme noch den Umweg zum Turm in Kauf und arbeite mich stufenreich den Hügel hinauf, um eine Baustelle vorzufinden, so dass ich ihn nicht besteigen kann. So ein klitzekleiner Hinweis beim Wegweiser wäre nett gewesen.

Auf der alten, nur in den Kurven befestigten Straße steige ich hinan. Die Sonne scheint, die Blümchen blühen am Wegesrand - es ist einfach schön!

Bald verlasse ich die Straße und wandere auf einem schmalen Wanderweg der Gotthardreuss entlang. An schattigen Stellen ist es ganz schön frisch! Aber tolle Alpenrosen wachsen hier! Und diese herrlichen, lila Disteln.

Beim Stall auf einer Almwiese ist ein Wasserhahn, aber da er Wasser mir dunklen Schwebstoffen liefert, gönne ich mir lieber einen Schluck aus meiner Flasche. Ich gönne mir auch einen Pulli, denn der Wind ist kalt. Ein Wandererpaar überholt mich und ich beobachte, wie man auch unvorsichtig an Kühen vorbeigehen kann. Kein Wunder, dass da auch mal was passiert.

Ich passiere den riesigen Betonhut, der eine Kapelle sein könnte, aber in Wirklichkeit die Lüftung der direkt unter mir verlaufenden Tunnelröhren (Straßentunnel) darstellt. Direkt danach geht es über eine Kuhweide mit Kälbchen. Uiuiui - Alarmstufe! Die Muttertiere sehen es jedoch sehr entspannt.

Noch vor erreichen der Passhöhe überschreite ich die Grenze ins Tessin. Ab jetzt muss ich wohl italienisch sprechen. Oder es zumindest versuchen.

Hier oben wird es flacher, dafür ist es jetzt richtig windig. Ich bin froh, um meine bisher nutzlos durch die Gegend getragene Jacke im Rucksack zu wissen. Die lange Unterwäsche werde ich aber ganz sicher nicht benötigen.

Weiter geht es auf dieser von Bächlein und moorigen Stellen durchzogenen, leicht ansteigenden Hochebene. Der Weg zieht sich - und ich stärke mich an einer Banane. Die überall verfügbaren Hundekotbeutel eignen sich übrigens auch hervorragend zum Transport von Bananenschalen, falls die eigenen Frühstücksbeutel alle sind. Bin gespannt, wann die Hundekotbeutel ebenso wie die Beutel in der Gemüseabteilung auch verboten und durch Bio-Mehrwegnetze ersetzt werden.

Rechter Hand liegt nun die Staumauer des Lago di Lucendro, was bedeutet, dass ich mich von der von dort kommenden Gotthardreuss verabschiede.

Wunderhübsch gelb blüht hier die Alpen-Kuhschelle.

Ich bin nicht ganz unglücklich, als ich den Gotthard-Pass erreiche. Auch hier ist es ungemütlich windig. Tatsächlich sind die Wanderschilder hier schon auf Italienisch beschriftet, so dass ich nach Airolo nun „2 ore 20 min“ benötigen soll.

Das Picknick in der Sonne, das ich mir hier vorgestellt hatte, kann ich wohl vergessen. Laut Wetter-App hat es 12°C, mit Windgeschwindigkeiten von 30 km/h. Ich finde, es ist richtig kalt. Und es ist unglaublich viel los. Diese ganzen Touris...

Nach ein paar Minuten Abstieg finde ich ein halbwegs gut geschütztes Plätzchen und mache Mittagspause. Es ist dringend nötig, denn der Magen hängt mir in den Kniekehlen, doch so richtig will mir mein Brot und der Käse nicht schmecken. Vielleicht weil es so kalt ist? Oder weil ich viel zu wenig getrunken habe?

Nach kurzer Zeit wandere ich weiter. Der Weg beginnt die ausladenden Kurven der Tremola abzuschneiden und führt steil und steinig bergab. Ich passiere eine Schneefeld welches man vor einer Woche ganz sicher noch über die Straße hätte umgehen müssen. Hier kann man auch ganz toll beobachten, wie abtauende Schneefelder gefährliche, instabile Brücken bilden, was man aber dem Schneefeld von oben nicht ansieht.

Der weitere Abstieg ist wunderbar und abwechslungsreich. Auch hier gibt es einige Feuchtgebiete zu meistern, weil sich der Bach nicht an sein Bett halten möchte, was ich aber auch ohne Spezialausbildung durch Charlotte Roche problemlos hinbekomme.

Mit Erreichen von Motta Bartola endet das spannendste Stück entlang der Tremola.

Ich merke, dass ich hier im Tessin bin. Also fast bei Italienern. Ich treffe jetzt schon auf die dritte Kuhweide, durch die ganz offensichtlich der Wanderweg führt, bei der man es jedoch nicht für nötig befindet, irgendwelche Vorrichtungen zum Übersteigen/Aushaken an den Elektrozäunen anzubringen. Soll doch der blöde Wanderer schauen, wie er dort rüber kommt. So etwas nervt mich eigentlich - da ich aber jetzt tiefenentspannt bin, komme ich darüber hinweg.

Auf einmal ist mein Weg mit umgedrücktem Kleingehölz versperrt. Kein Durchkommen! Offensichtlich ist dies nicht erst seit gestern so, denn es gibt bereits einen lehmigen Steilabgang, den man sich mit Hilfe von Ästen hinabhangeln kann. Ich weiß nicht, ob ich da jemals wieder rauf käme. Darunter kommt man dann wieder auf den richtigen Weg, d.h. man hat eine Serpentine ausgelassen. Oh Mann!

An den nächsten Serpentinen geht die auf die Felsen gesprühte Markierung, ebenso wie mein GPS-Track geradeaus weiter über einen Bach in den Wald, während das Hinweisschild nur auf den Fahrweg nach unten zeigt. Ich analysiere das Schild und komme zu der Erkenntnis, dass hier nur die Tafeln gedreht wurden. Im Internet hatte ich zudem gestern gesehen, dass dieses Wegstück wegen Forstarbeiter gesperrt ist. Würde also Sinn ergeben. Ich brauche kein extra Abenteuer und möchte heute mal eine sinnvolle Entscheidung treffen, so dass ich nun den langweiligen Fahrweg nach unten nehme.

So nach Airolo einzulaufen ist auch schön, denn ich kann gut erkennen, wo mich der Weg am linken Berghang weiterführen wird, nämlich auf der Strada Alta Leventina - einem Wanderklassiker, den ich als kleines Kind schon einmal begehen durfte. Dort geht es allerdings erst übermorgen weiter - morgen ist (echter) Ruhetag.

Wenn ich übrigens jetzt von unten auf den Hang oberhalb des Orts schaue, sehe ich große Teile des Waldes flach liegen bzw. schon zu Stapeln aufgeschichtet. Sieht aus, wie nach einem Sturm. Ich glaube, heute habe ich alles richtig gemacht.

Mein heutiges B&B befindet sich etwa einen halben Kilometer vom Zentrum entfernt. Ich werde freundlich begrüßt und mein Zimmer mit Bad befindet sich im Untergeschoss, des am Hang stehenden Hauses. Ich habe also eine Terrasse und einen eigenen Eingang in mein Zimmer. Wir klären die Frühstückszeit, sie zeigt Wasserkocher, Kaffeemaschine und kleinen Kühlschrank und beginnt dann, meinen normalen Ankommens-Rhythmus aus der Bahn zu werfen, mit der Frage: „Möchten Sie ein Bier?“ OH JA! Und wie ich will!

Ich setze mich also völlig gechillt, ungewaschen auf die Terrasse und genieße mein Bier und schreibe an meinem Bericht, als sie mich fragt, ob ich meine Sachen waschen möchte. Ich wiegele ab und meine, ich würde sie nur kurz selbst...... Sie habe ein 30-Minuten Programm in der Maschine mit 30 Grad, ich könne ihr die Sachen geben. Sie bringt einen Korb, den ich mit den Klamotten fülle und ihr hinstelle - springe derweil unter die Dusche - und als ich fertig bin, bringt sie den Korb gewaschen zurück. Ich hänge das Zeug dann auf einer Außen-Wäscheleine auf und wir unterhalten uns etwas. Für morgen könne sie mir ein Ticket für die Seilbahn auf der anderen Talseite anbieten. Dort oben könne man schön laufen, oder auch im Restaurant einkehren. Gar keine schlechte Idee an einem Ruhetag. Laufen werde ich morgen nämlich nicht viel mehr, als nötig, aber so ein bisschen Spazierengehen geht ja immer. Wir unterhalten uns weiter, auch darüber, wo ich hinmöchte, wobei ich erwähne, dass ich das Tessin ja wunderschön fände, wenn es da nicht das Sprachprobleme gäbe. Sie meint zwar dass hier jeder deutsch spräche und ich erzähle von meinem englisch-italienischen Telefon-Erlebnis in Osco, wo ich übermorgen hin möchte. Wo ich denn sei, möchte sie wissen, denn angeblich gibt es dort zwei Unterkünfte, auch wenn das Internet nur eine kennt. Ich schaue kurz nach und sage es ihr. Sie könne ja kurz anrufen und nachfragen, ob alles klar gehe....

Die Frau weiß, was ich (wie wahrscheinlich jeder Wanderer oder Radler, der hier vorbeikommt) brauche und wie man mir einfach helfen kann!

Und das, ohne sich aufzudrängen. Soo super gut!

Fazit: Zwei Höhepunkte an einem Tag - Den höchsten und kältesten Pass und die freundlichste und aufmerksamste Gastgeberin.

Länge Auf Ab
22.3 km 697 Hm 990 Hm
 


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