Oeversee, 24.06.2023
Heute steht also die letzte nördliche Etappe an.
Frühstück gibt es erst ab 8 Uhr und im Frühstücksraum ist nur eine Familie mit zwei jugendlichen Kindern. Da ich direkt daneben sitze, weil dort für mich eingedeckt ist, darf ich mich über deren Themen und den Umgang wundern. Das fühlt sich irgendwie an, wie Mäuschen in einer fremden Wohnung zu sein.
Der Bus fährt pünktlich und ich stehe sogar auf der richtigen Straßenseite. Während der Fahrt kann man sich voll auf die Aussicht oder sein Gespräch konzentrieren, ohne ständig durch die Ansage der nächsten Haltestelle unterbrochen zu werden oder durch irgendwelche Anzeigen irritiert zu sein. Wer nicht weiß, wo er hinwill, hat halt Pech und muss entweder Ortskundige um Hilfe fragen oder die Route parallel auf Google Maps verfolgen.
Da ich gestern gesehen habe, dass es einen kleinen Edeka in Jarplund gibt, kaufe ich mir zunächst Wasser für die Tour und gebe mein ganzes Leergut zurück.
Vor dem Laden verkauft eine nette, junge Frau, die ich um ihren langweiligen Job nicht beneide, das pure Glück von heimischen Erdbeerfeldern. Mit 300 g davon kann ich mir die ersten Kilometer versüßen.
Dann ist es so weit! Im wenig attraktiven Industriegebiet steht das Ortsschild von Flensburg. Das Ziel meines Traums, auch wenn die dänische Grenze noch 13 km entfernt ist.
Ja, ein wenig Stolz ist auch am frühen Morgen schon dabei, hier vor diesem Schild posieren zu können, obwohl ich in der Heide 230 km überspringen musste.
Direkt hinter dem Flensburger Bahnhof passiere ich das Schützengildehaus „St. Knudsborg“. Für mich sieht es aus wie ein normales Restaurant und ich wundere mich, warum mehrere Männer die Fahnenmasten umgelegt haben. Weil ich neugierig bin, gehe ich hin und schaue, was sie tun und wundere mich, dass sie eine seltsame Sprache sprechen. Von den sympathischen Menschen erfahre ich, dass dies das Haus der Knudsgilde sei und werde für morgen früh, den „Knudstag“ (immer 25.6.) zu einem traditionellen und festlichen Gang zum Rathaus in Frack und Zylinder eingeladen. Außerdem erfahre ich nicht nur, dass Flensburg die schönste Stadt Schleswig-Holsteins ist, sondern auch, dass die Knudsgilde bereits im 12. Jahrhundert gegründet wurde, als Flensburg noch dänisch war und die Gilde damals große Macht ausübte und ähnlich strukturiert war, wie die deutsche Hanse, die es hier nicht gab und mit der sie in Konkurrenz stand.
Das klingt alles sehr interessant, Geschichte muss also nicht unbedingt langweilig sein. Vielleicht schaue ich mir morgen den Umzug tatsächlich an, auch wenn die Zeit mit den Frühstückszeiten kollidiert.
Und jetzt weiß ich auch, welcher Umzug meinen Bus in Schleswig ausgebremst hat. Das war nämlich der Marsch der Schleswiger Knudsgilde, die die erste Gilde überhaupt war und als Vorbild für weitere Gilden im dänischen und schwedischen Raum diente, also auch für die Flensburger Gilde.
Als ich kurz darauf am Hafen stehe, wird mir klar, was die Besonderheit von Flensburg ausmacht. Ebenso wie Schleswig liegt die Stadt am Ende einer Förde, was ja nichts anderes als „überflutetes Trogtal“ bedeutet. Da sich die Altstadt die „Abhänge“ dieses Tals hinaufzieht, macht es das Leben für Radler und Fußgänger etwas mühsam, gibt dafür aber ein wirklich schönes Bild ab.
Beim Weitergehen bemerke ich am Ufer plötzlich viele Menschen mit Fischbrötchen und ich realisiere ein Gefühl der Leere im Magen. Daher folge ich der „Fischbrötchen-Spur“, bis ich im Museumshafen „Ben’s Fischhütte“ mit einer langen Schlange davor entdecke. Da es zahlreiche alternative Verpflegungsmöglichkeiten gäbe, interpretiere ich dies als gutes Zeichen.
Ein interessantes, kontaktloses Zahlungssystem lerne ich zudem kennen. Der Verkäufer sagt den Preis an und man legt die Scheine in eine Schüssel auf dem Tresen. Dann sagt der Verkäufer das Wechselgeld an und man nimmt es sich selbst aus der Schüssel. Alles unter den Augen des Verkäufers und ohne dass dieser Geld anfassen muss. Praktisch und sehr hygienisch.
Auch hier werden die Brötchen selbstverständlich frisch nach Bestellung zubereitet. Ich traue mich gar nicht, so ein Brötchen auch nur mit dem zu vergleichen, was man uns zu Hause bei Nordsee und Co. anbietet.
Ich wähle Sild, also einen marinierten atlantischen Hering, weil ich den noch nie hatte. Wow, ist das lecker - zum Glück bin ich noch ein paar Tage hier und kann wiederkommen!
(Ben’s Fischhütte - Deppenapostroph hin oder her - leckere Fischbrötchen können sie!)
Irgendetwas in mir scheint sich heute gegen das Ankommen zu sträuben, denn bevor ich weiterwandere „muss“ ich unbedingt noch einen Kaffee trinken. Das tue ich im Schifffahrtsmuseum und weiß danach auch, was ich mir die nächsten Tage noch anschauen möchte. Danach nehme ich die letzten Kilometer tatsächlich unter die Füße und verlasse den Altstadtkern durch das Nordertor.
Am „Ostseebad“ befindet sich ein herrlicher Strand mit Blick auf Flensburg und die dänische Stadt Kollund. Die einen baden, die anderen sonnen sich und manch einer bemüht sich, seinen Kohlegrill zum Brennen zu bekommen. Nur ich strebe leise vor mich hin singend nordwärts. Alles ist, wie es ist und das Leben ist schön.
Im Ortsteil Wasserleben der Grenzgemeinde Harrislee befindet sich der westlichste Punkt der Ostsee, deren Ufer ich hier letztmals verlasse und mich im Zickzack über einen Autobahnparkplatz (ganz prima!) in den Wald begebe.
Da sich die Menschen offensichtlich lieber am Strand tummeln, kann ich hier noch einmal die Einsamkeit, oder vielleicht besser gesagt, die stille, bedingungslose Einheit mit der Natur, genießen.
Weil sich das so gut anfühlt und es nicht mehr weit ist, suche ich mir ein ebenes Plätzchen, breite meine Zeltunterlage aus, lege mich drauf, schaue in das Blätterdach und genieße den Frieden. Ich merke, wie sich Ruhe und Dankbarkeit ausbreitet, werde sentimental und heule ein wenig vor mich hin. Und schöpfe ganz viel Kraft.
Nun fühle ich mich endgültig bereit, zur Grenze zu gehen.
Ich habe mich heute völlig mit dem Wasser verkalkuliert und vergessen, dieses unterwegs nachzufüllen.
Als ich in Kupfermühle ein Lagergebäude eines dänischen Klick&Collect-Anbieters sehe, frage ich eine Mitarbeiterin, die gerade herauskommt, wo ich denn Wasser bekommen könne und unterstreiche das durch Zeigen meiner leeren Flasche.
Sie ist Dänin, murmelt „Moment bitte“, verschwindet in der Lagerhalle und signalisiert mir, mit meiner Flasche draußen zu bleiben. Ich bin etwas verwirrt, denn ich dachte, sie geht zum Wasserhahn. Einen längeren Moment später kommt sie mit 4 kleinen, sehr kalten Wasserflaschen zurück und will sie mir in die Hand drücken. Ich bin perplex! Ich nehme gerne zwei davon und bedanke mich vielmals. Habe ich hier gerade dänische Hilfsbereitschaft erfahren? Ich bin sprachlos.
Zur Grenze für Fußgänger und Radfahrer ist es nicht weit. Als ich ankomme, traue ich meinen Augen nicht. Nichts weist auf die Grenze hin. Am Weg steht ein hundsgewöhnlicher Stein und eine Schranke, die verhindert, dass Autos durchfahren, sowie zwei Tafeln, die generell über die Wanderwege informieren. Keine Schilder wie „Tschüss Deutschland, willkommen in Dänemark“.
Ich bin echt enttäuscht, denn die Ortsausfahrt von Hinterpusemuckel macht mehr her als dieser Grenzübergang.
Also wandere ich noch ein paar Meter weiter auf dänisches Territorium, damit ich in Kruså zumindest das Ortseingangsschild fotografieren kann. Der Grenzübergang an der Bundesstraße ist nur für Autos zugelassen. Fußgänger dürfen dort gar nicht hin. Was machte ich nun, wenn ich etwas für den Zoll anmelden wollte?
Außer einem Pizzaladen, einer Bushaltestelle und einem Discount-Sexshop gibt es in Grenznähe nur aufgegebene Ladengeschäfte. Das brauche ich jetzt gerade alles nicht. Nicht einmal Lakritze kann man hier kaufen.
Ich stoppe meine Track-Aufzeichnung und gehe als „nicht-mehr-E1-Wanderer“ zurück nach Deutschland. Ich google noch nach dieser speziellen Rolltreppe, die sich hier befinden soll und die ich bisher nicht gesehen habe. Daraufhin suche ich das Gelände des „Hotel des Nordens“ ab und kann sie trotzdem nicht finden. Plötzlich stehe ich auf der vierspurigen Bundesstraße und beschließe, dass mir die Rolltreppe egal ist. Ich habe keine Lust mehr, noch länger zu suchen. Also marschiere ich entlang der Straße zur Bushaltestelle Kupferhammer und traue meinen Augen nicht. Hier ist sie, die gesuchte Rolltreppe! Direkt hinter der Haltestelle. Ich mache schnell mein Foto, drehe mich um, und sehe, wie mein Bus kommt und einfach vorbeifährt, obwohl ich winke. Wieder eine halbe Stunde „Freizeit“ gewonnen. Da ich keine Lust habe, hier in der Sonne herumzustehen, gehe ich an der Rolltreppe hoch und in den Laden, der sich dort oben befindet. Es ist, als ob man in Dänemark wäre. Ich verstehe nichts und spreche eine junge Dänin an, der ich ohnehin gerade im Weg herumgestanden bin. Sie spricht perfektes Englisch. Nicht nur brauche ich Hilfe mit dem Preisschild, das hauptsächlich DKK, aber auch EUR anzeigt, sondern möchte zudem ergründen, warum ein „dänischer“ Supermarkt hier in Deutschland steht und viele Dänen voll beladene Einkaufswagen mit riesigen Mengen dänischer Produkte hinausschieben. Einige Fragen, z.B. nach Steuern überraschen sie und sie beginnt, diese interessant zu finden.
Am Ende komme ich selbst darauf, als ich den Kassenzettel (der deutschen GmbH) in der Hand halte. 7 % Umsatzsteuer für Lebensmittel, während in Dänemark ein Satz von 25 % auf alles gilt. Also ist alles alleine aufgrund der Steuer 15 % günstiger. Krass!
An der Bushaltestelle unterhalte ich mich noch mit einem Urlauber-Ehepaar, die aufgrund meiner Einkäufe fragen, ob man denn auch als Nicht-Däne dort einkaufen dürfe. Sie hätten das gute Angebot für einen Whisky gesehen, aber sich nicht reingetraut.
Die Busfahrt verläuft ohne größere Probleme. Verspätung und verpasster Anschluss lassen mich heute kalt.
Die Jugendherberge liegt etwas außerhalb der Stadt direkt beim Stadion und es ist nach 18 Uhr, als ich ankomme. Für meine Verhältnisse sehr spät.
Der Check-in wie immer freundlich und als besonderer Service ist das Bett bereits bezogen und eine Flasche Wasser steht in meinem Einzelzimmer mit Dusche/WC bereit. Wie im Hotel - und das ist für das Ziel nach der langen Wanderzeit auch genau richtig. Jetzt möchte ich entspannen.
Für morgen ist Ruhetag in Flensburg mit etwas Sightseeing angesagt.
Fazit: Obwohl der Abschluss an der Grenze auf den ersten Blick etwas enttäuschend war, war dies ein ganz wunderbarer, gefühlvoller Tag.
Länge |
Auf |
Ab |
17.4 km |
164 Hm |
185 Hm |